Zum 60-jährigen Bestehen der Heraeus Bildungsstiftung geben Alexandra und Christine Heraeus Einblicke in ihre Motivation und Haltung: Was sie antreibt, welche Erfahrungen sie geprägt haben – und warum Beziehungen für sie im Zentrum guter Schule stehen. Dafür will die Stiftung ihr Angebot gezielt ausbauen.
Wenn Ihr an Eure ersten Begegnungen mit der Heraeus Bildungsstiftung denkt – welche Bilder oder Erinnerungen kommen Euch in den Sinn?
Alexandra Heraeus: Meine Urgroßmutter Bertha Heraeus hatte die Stiftung 1965 gegründet, später kamen Zustiftungen von Kathinka Platzhoff und Clara André. Aufgrund dieser Historie war die Stiftung seit jeher “da”.
Für mich persönlich nahm sie ab 2008 mehr Platz ein. Damals übernahm meine Mutter Beate Heraeus den Vorstandsvorsitz und fokussierte die Stiftungsarbeit auf das Thema “Führung in Schule”.
Als sich der Vorstand 2015 mit der Frage beschäftigte, ob ein Online-Kurs für Lehrkräfte ein geeigneter und zukunftsweisender Weg wäre, klinkte ich mich zunehmend in Gespräche ein. Schnell war mir bewusst: Ich brauche eine klare Rolle.
Ende 2015 übernahm ich das Vorstandsamt von meinem Vater, später leitete ich die Stiftung als geschäftsführende Vorständin und seit 2023 als Vorstandsvorsitzende.
Christine Heraeus: Meine Mutter Ursel Heraeus war ebenfalls im Vorstand der Stiftung, gemeinsam mit Beate Heraeus. Für mich war die Stiftung zwar präsent, aber nicht ständig im Mittelpunkt.
Im Sommer 2021 begleitete ich sie zu einem Strategieworkshop in Hanau – als Vorbereitung auf die Übergabe ihres Amtes an mich, die 2023 erfolgen sollte. Ich hatte damals noch keinen tiefen Einblick in die Arbeit und wurde dennoch sofort ernst genommen und eingebunden. Diese Offenheit hat mich beeindruckt.
Was hat Euch persönlich motiviert, Verantwortung im Vorstand zu übernehmen?
Christine Heraeus: Mich hat von Anfang an motiviert, wirklich etwas bewegen zu können. Ich spürte: Wenn ich bereit bin, Zeit zu investieren, kann ich hier mitgestalten.
Dazu kam, dass Alexandra und ich uns sehr gut verstanden und schnell gemeinsame Vorstellungen entwickelten – über Inhalte, Arbeitsweisen und die Atmosphäre in der Stiftung.
Mit Martin Fugmann im Vorstand sind wir ein agiles Team, das viel bewegt.
Alexandra Heraeus: Die Organisation weiterzuentwickeln, hat mich gereizt. Ich wollte Strukturen aufbrechen, mehr Beteiligung ermöglichen, new work nicht nur vermitteln, sondern auch leben. Transformation zu gestalten – das war für mich ein echter Antrieb.
Zugleich deckt sich die Grundhaltung der Stiftung stark mit meiner eigenen Überzeugung:
Die einzelne Persönlichkeit kann einen großen Unterschied machen. Das zu erkennen und zu stärken, halte ich für einen der größten Hebel der Menschheit.
2023 gab es den Generationenwechsel in der Führung der Stiftung – Ihr seid auf Eure Mütter gefolgt. Wie habt Ihr diesen Schritt gestaltet und erlebt?
Alexandra Heraeus: Wir haben die Übergabe lange vorbereitet und wussten um viele Stolperfallen. Der intensive Austausch und stellenweise auch Begleitung durch eine professionelle Mediation haben uns geholfen, die verschiedenen Rollen und Themen auseinanderzuhalten.
Natürlich stecken neben inhaltlichen Themen auch viele Emotionen in so einem Prozess. Meine Mutter hatte die Stiftung stark geprägt – von diesen Impulsen profitieren wir bis heute. Auf diesem Fundament konnte ich eine partizipative und flexible Kultur weiterentwickeln.
Entscheidend war für mich, dass wir den Übergang nicht als Bruch empfunden haben, sondern als organisches Weiterwachsen.
Christine Heraeus: Genau diese intensive Vorbereitung hat auch für mich den Unterschied gemacht. Da ich fast zwei Jahre in den Generationenwechsel eingebunden war, habe ich die Übergabe als reibungslos erlebt. In gemeinsamen Workshops konnten wir alles gründlich durchdenken und vorbereiten. Wichtig war mir außerdem, dass wir das gesamte Team frühzeitig mitgenommen haben – dadurch waren am Ende wirklich alle an Bord.
Wie würdet Ihr die Entwicklung seit dem Generationswechsel beschreiben – und was ist Euch dabei besonders wichtig?
Alexandra Heraeus: In den letzten Jahren wurde noch einmal deutlich, wie rasant sich die Welt entwickelt. Flexibilität, Kreativität und Agilität gehören inzwischen zu den zentralen Kompetenzen, die in unserer Gesellschaft gebraucht werden. Schulen in ihrer Fähigkeit zur Veränderung zu stärken, wird auch künftig unsere Kernaufgabe sein.
Wir treten nicht mit dem Anspruch auf, die einzig wahre Lösung für Schule zu kennen, sondern verstehen uns als Zuhörer, Impulsgeber und Begleiter auf dem Weg zu einer lebendigen Schulkultur – aber mit einer klaren Vorstellung davon, wie wir uns Schule wünschen.
Welche Vorstellung ist das?
Christine Heraeus:
Eine Schule, die auf einem stabilen Fundament vertrauensvoller Beziehungen steht. In der Schulleitungen und Lehrkräfte gemeinsam Verantwortung tragen und als Team wirken. In der die Stärken der Schüler:innen gesehen und gefördert werden.
Wo Lernen in Selbstverantwortung möglich ist und eine positive Feedback- und Fehlerkultur gelebt wird. Und wo Partizipation und Zusammenarbeit nicht bloß Schlagworte sind. Dafür setzen wir uns ein – und immer mehr wissenschaftliche und praktische Erkenntnisse bestätigen, dass dies ein tragfähiger und zukunftsweisender Weg ist.
Gab es Momente, in denen Ihr dachtet: Jetzt beginnt unsere eigene Handschrift sichtbar zu werden?
Alexandra Heraeus: Für mich war das Projekt Grundschule voraus! in Hamburg ein Meilenstein. Es hat uns fachlich geschärft, in der Stiftungswelt sichtbarer gemacht und zugleich wissenschaftliche Erkenntnisse geliefert, die für andere von hohem Wert sind.
Christine Heraeus: Der Deutsche Lehrkräftepreis 2023 war für mich so ein Moment. Abends wurde in der Tagesschau über die Preisverleihung berichtet – da wurde mir noch einmal sehr bewusst, welche Strahlkraft wir erzielen können.
Wo seht Ihr die Heraeus Bildungsstiftung heute in ihrer Rolle für die Bildungslandschaft Deutschlands?
Christine Heraeus: Wir sind gut vernetzt, vor allem durch Kooperationen mit Bundesländern und anderen Stiftungen und Verbänden. Der BildungsCampus Leadership in Sachsen-Anhalt ist ein schönes Beispiel. Dort ist ein landesweites Qualifizierungsprogramm entstanden, das wir im Auftrag des Bildungsministeriums und gemeinsam mit dem Landesinstitut für Schulqualität und Lehrerbildung gestalten und umsetzen. Damit stärken wir schulische Führungskräfte gezielt in ihrer Handlungskompetenz und können gemeinsam mit dem Ministerium viel bewirken.
Alexandra Heraeus: Das sehe ich ähnlich. Durch kluge Kooperationen und einen klaren Fokus auf Programme mit Hebelwirkung können wir viele Schulen erreichen. Allein an unserem Programm Verbindungsstark haben über 18.000 Schulleitungen und Lehrkräfte in Hessen teilgenommen. Indirekt profitieren davon Hunderttausende Schüler:innen. Unser Ziel ist es, nicht bei einzelnen Leuchtturmschulen stehenzubleiben, sondern echte Systemveränderungen anzustoßen.
Und wie kann das gelingen?
Alexandra Heraeus: Wir denken intensiv darüber nach, wie wir dazu beitragen können, dass Leuchtturmschulen auch in die Breite getragen werden können. Wie so oft gibt es bei vielen Entscheider:innen in Schulen kein Erkenntnisproblem, sondern vielmehr die Herausforderung, im komplexen Schulalltag nötige Änderungen anzustoßen und umzusetzen.
Ab 2026 werden wir ein Programm starten, um Schulen in der Transformation über einen Zeitraum von ca. zwei Jahren zu begleiten und an den richtigen Stellen mit Coachings, Teamtrainings, Vernetzung und Impulsen zu stärken.
Frage: Welche Verantwortung seht Ihr generell für Stiftungen im Bildungsbereich?
Christine Heraeus: Gerade in Zeiten finanzieller Engpässe können Stiftungen wichtige Lücken schließen. Durch strategisch kluge Kooperationen haben wir die Möglichkeit, auch größere bildungs- und gesellschaftspolitische Projekte anzustoßen und voranzubringen – oft schneller und flexibler, als es staatlichen Strukturen möglich ist.
Alexandra Heraeus: Darüber hinaus haben Stiftungen die Chance, Innovationen zu erproben und Freiräume zu schaffen. Wir können Themen anschieben, die im System sonst länger dauern würden.
Die Heraeus Bildungsstiftung feiert in diesem Jahr ihr 60. Jubiläum – Zeit für Geburtstagswünsche. Wenn es keinerlei organisatorische, finanzielle oder politische Grenzen gäbe – welchen Wunsch hättet Ihr?
Christine Heraeus: Mein Traum wäre die Offenheit der Ministerien, gute Ansätze landesübergreifend anzuerkennen und damit die vielen guten Programme, die es bereits in Deutschland gibt, schneller und strukturierter in die Breite zu tragen. Ich denke, das ist realistisch.
Noch schöner wäre natürlich ein grundlegend offenerer und weitsichtiger Blick der Verantwortlichen: Dass im Schulsystem radikale Veränderungen nötig sind, um Bildungsarbeit an Schulen zukunftsfähig zu machen.
Alexandra Heraeus: Ich wünsche mir eine neue Betrachtung auf die agierenden Menschen im “System Schule”. Was braucht es, damit junge Menschen neugierig und offen auf die Herausforderungen der Welt blicken können? Ein Schulleitungsteam mit klarem innerem Kompass, das Spaß an Führungsaufgaben hat. Lehrkräfte, die sich als Lernbegleiter verstehen. Dazu Fachexperten, Schulpsychologen, Sozialarbeiter, außerschulische Partner:innen und viele mehr.
Den Wert in der Vielfalt zu erkennen und Menschen nach ihren Stärken einzusetzen und zu fördern, zählt für mich zur Grundlage einer zukunftsfähigen Bildungslandschaft.
Ihr beschäftigt Euch auch abseits der Stiftung mit Themen wie mentale Gesundheit und Wohlbefinden. Was wünscht Ihr Euch ganz persönlich für die Entwicklung von Schule in diesen Themenbereichen?
Christine Heraeus: Mir ist wichtig, dass das Thema endlich den Stellenwert bekommt, den es verdient. Jede dritte Lehrkraft fühlt sich überlastet. Ich wünsche mir, dass Schulen Orte werden, an denen Lehrkräfte gestärkt werden – durch mehr Aufmerksamkeit für Persönlichkeit, Beziehungskultur und Selbstwirksamkeit. Wenn Wohlbefinden selbstverständlich ein Teil von Schule wird, profitieren alle: die Lehrkräfte ebenso wie die Schüler:innen. Genau deshalb zahlen unsere Programme auch bewusst auf diese Themen ein.
Alexandra Heraeus: Ich wünsche mir, dass in Schulen ein geschärfter psychologischer Blick entwickelt wird. Viele Jugendliche sind heute verunsichert oder besorgt über ihre Zukunft. Wenn Lehrkräfte frühzeitig Anzeichen erkennen und über ausreichend Möglichkeiten und Ressourcen verfügen, darauf einzugehen, verändert das den Schulalltag. Präventiv zu handeln und Schüler:innen gezielt zu stärken – das ist für mich ein Schlüssel, damit Schule ein Ort des Wachstums bleibt.
Gibt es Begegnungen mit Schulleitungen oder Lehrkräften, die Euch besonders gezeigt haben, was eine solche Haltung in der Praxis bewirken kann?
Alexandra Heraeus: Mich beeindrucken immer wieder die Preisträger:innen des Deutschen Lehrkräftepreises. Viele von ihnen zeigen mit großer Klarheit und Verantwortungsbewusstsein, wie man wertschätzend führt und Verantwortung teilt. Diese Haltung finde ich beispielhaft und sehr inspirierend.
Christine Heraeus:
Mich begeistern Lehrer:innen, die ihren Schüler:innen wirklich zuhören und Interesse zeigen. Die auf Augenhöhe sprechen, aktuelle Themen aufgreifen und den Lehrplan auch mal kreativ anpassen. Das ist nicht immer leicht, verändert aber spürbar die Lernatmosphäre.
Was wünscht Ihr Euch, dass Menschen in zehn Jahren über die Heraeus Bildungsstiftung sagen?
Alexandra Heraeus: Dass wir eine lebendige, neugierige und innovative Organisation sind – fest verwurzelt, aber immer am Puls der Zeit.
Christine Heraeus: Bekanntheit, Agilität und Strahlkraft – das wünsche ich uns. Und dass man sofort an uns denkt, wenn es um Schulen geht, die auf starken Beziehungen und echter Zusammenarbeit aufbauen.