„Berufsorientierung heute bedeutet vor allem Vermittlung von Entscheidungskompetenz”
Interview mit Anne-Christin Zeng und Konrad Schaller Preisträger*innenteam Deutscher Lehrkräftepreis – Unterricht innovativ
Wie gelingt Berufsorientierung am Gymnasium? Anne-Christin Zeng und Konrad Schaller vom Carl-von-Ossietzky-Gymnasium in Berlin-Pankow setzen in ihrem Kurs „Studium und Beruf“ auf Persönlichkeitsentwicklung, interessengeleitetes und selbstständiges Recherchieren, Teamarbeit sowie digitale Kompetenzen. Die digitalen Module ihres Kurses wurden in diesem Jahr beim Deutschen Lehrkräftepreis mit dem ersten Preis in der Kategorie „Unterricht innovativ“ ausgezeichnet. Siehe auch hier.
Welche Rolle spielt Schule bei der Berufsorientierung von Schüler*innen?
Anne-Christin Zeng: Zu meiner Schulzeit passierte die Berufsorientierung marginal bis gar nicht. Meine eigene Berufsorientierung hat sich bei mir auf die Zeit nach der Schule verlagert und ich wünsche mir jetzt, dass ich das schon vorher hätte erleben können. Nicht erst in der Oberstufe, sondern bereits ab Klasse 7. Ich denke, dass Schule hier eine sehr große Rolle spielen kann und sollte.
Konrad Schaller: Ja, und neben uns haben außerdem die Eltern eine ganz entscheidende Rolle; die erlebe ich aber zunehmend als orientierungslos – angesichts der mittlerweile kaum überblickbaren Möglichkeiten. Neben dem Studium gibt es ja auch das duale Studium oder die Ausbildung als Optionen. Diese Möglichkeiten aufzuzeigen ist heute wichtiger denn je.
Anne-Christin Zeng: Auch arbeitsmarktbedingt muss dieses Denken „Abitur und dann Studium“ aufgebrochen werden: Es muss mehr junge Leute geben, die eine Ausbildung als interessante und ernstzunehmende Option sehen.
Beobachtet ihr, dass die Eltern eurer Schüler*innen das Studium als üblichen Weg sehen?
Konrad Schaller: Ich sehe, dass der Druck auf die Kinder dahingehend weniger wird. Es gibt nicht mehr diese Erwartungshaltung. Aber ich beobachte auch – das ist jetzt vielleicht ein bisschen aus der Berlin-Pankow-Bubble betrachtet –, dass es den Familien wirtschaftlich so gut geht, dass die Eltern zu den Kindern sagen: „Du sollst nur glücklich werden! Finde mal deinen Weg!“ Das ist dann für die Jugendlichen fast noch anstrengender, weil es keinerlei Orientierung vorgibt.
Die digitale Umsetzung eures Kurses „Studium und Beruf“ entstand in der Pandemie, wurde mit dem Deutschen Lehrkräftepreis prämiert. Was zeichnet euren Unterricht zur Berufsorientierung aus?
Konrad Schaller: Die Kursmodule sind im Lockdown bausteinartig entstanden. Sie sind vielschichtig, haben Projektcharakter und verknüpfen digitale Kompetenzen mit Inhalten. Gerade bei der Berufsorientierung gibt es ja keinen festgelegten Stoff, den wir vermitteln müssen. Es geht darum, dass jede*r SuS seinen*ihren Weg geht – und dafür haben wir den Rahmen geschaffen.
Anne-Christin Zeng: Da stecken Prinzipien unseres Unterrichts drin, die wir eigentlich immer versuchen umzusetzen: Jede*r ist immer aktiv, es ist abwechslungsreich, man erfährt Neues und die Schüler*innen erwerben digitale Kompetenzen. Sie arbeiten im Team und müssen dadurch auch Kompromisse und gemeinsame Lösungen finden. Zu Beginn des Kurses geht es aber erst mal um die eigenen Interessen und Stärken: Wer bin ich? Was interessiert mich? Was kann ich?
Konrad Schaller: Außerdem vermitteln wir Beziehung zu uns, aber auch untereinander. In der 11. Klasse ist das ja eine zusammengewürfelte Gruppe. Da brauchen wir erst eine Vertrauensebene, bevor wir diesen Weg gehen. Sonst kann ich ja gar nicht in der Gruppe darüber sprechen und arbeiten, wer ich bin und was mich interessiert. Wir arbeiten auch ganz viel mit Peer-Feedback – wir als Lehrkräfte sind in den Projektphasen auch nicht immer dabei. Das ist wirklich eine andere Art zu unterrichten, die auch für andere Unterrichtsfächer sinnvoll wäre, nicht nur für die Berufsorientierung.
Die Schüler*innen haben in einem Berufeblog verschiedene Berufe vorgestellt, über Ausbildungswege in einem Podcast informiert, Lernspiele zu Ausbildung und Studium erstellt und Studierende in einer digitalen Fragerunde gelöchert. Wie viel gebt ihr vor, wie viel können die Schüler*innen selber gestalten und entscheiden?
Anne-Christin Zeng: Wir geben immer den Rahmen, technische Bedingungen oder Mindestkriterien, z. B. die Basisfragen für ein Experteninterview, vor, aber inhaltlich geben wir ganz viel Freiheit.
Konrad Schaller: Wir fordern die Schüler*innen z. B. beim Berufeblog auf, ihren Horizont zu erweitern und Leute zu interviewen, die in einem Bereich arbeiten, der sie interessiert. Viele der Berufe der Zukunft existieren heute noch gar nicht, d. h., Berufsorientierung heute bedeutet vor allem Vermittlung von Entscheidungskompetenz. Wir versuchen, heute zu antizipieren, was die Gesellschaft der Zukunft braucht.
Wie würdet ihr eure Rolle beschreiben?
Anne-Christin Zeng: Ich sehe mich eher als Impulsgeberin und Coach, ich gebe Begleitung und Unterstützung. Ich bin nicht die Lehrkraft, die vorne steht und frontal unterrichtet.
Konrad Schaller: Wir sind ein Stück weit auch Vorbild. Wir machen auch unseren eigenen Berufsweg transparent und wissen auch nicht, was wir in fünf Jahren machen oder wie Schule in zehn Jahren aussieht. Das hilft den SuS, weil sie merken: Ich muss heute nicht meinen ganzen Berufsweg planen. Die ersten ein, zwei Schritte reichen.
Welche Kompetenzen brauchen die Schüler*innen aus eurer Sicht für ihre Zukunft?
Anne-Christin Zeng: Anpassungsfähigkeit, Resilienz und Techniken zur Stressbewältigung. Das ganze Leben besteht aus Veränderung. Man braucht die Fähigkeit zur Wandelbarkeit. Das kann man jetzt schon gut üben.
Konrad Schaller: Sie brauchen darüber hinaus Frustrationstoleranz und Flexibilität. Wir entwickeln mit den Schüler*innen auch immer einen Plan B für ihre ersten beruflichen Schritte. Denn es kann ja gut sein, dass Plan A nicht funktioniert.
Trefft ihr eigentlich auch auf Schüler*innen, die Lehrkraft werden wollen?
Konrad Schaller: Ja, immer wieder. Und mich beruhigt, dass das immer sehr leistungsstarke Schüler*innen waren. Denen stehen viele Türen offen. Und ich finde, da müssen wir in Deutschland wieder hinkommen, dass Lehrkraft einer der attraktivsten Berufe ist.
Anne-Christin Zeng: Es ist wichtig, dass gute Leute Lehrkräfte werden, die Lust darauf haben und mit Innovationsgeist gestalten wollen.
Konrad Schaller: Aktuell sind die, die geeignet sind, eher abgeschreckt, weil sie die Grenzen und Herausforderungen des Systems sehen: die Klassengrößen, die Räume, die technische Ausstattung, die Arbeitsbelastung.
Interview: Valeska Falkenstein